„Der andere Fundevogel“

Es war einmal ein Krieg: Einer von den Kriegen, die lange dauern und rasch vergessen werden. Einer von den Kriegen, an denen niemand Schuld zu sein begehrt. Es war einmal ein Land, das seinen Namen an den Krieg und an die Sieger abgegeben hatte. Ein Land, das so arm geworden war, dass es sich schämte, ein Land zu sein. Es war einmal ein Kind in diesem Krieg, in diesem Land, das hatte niemanden mehr als eine Astgabel inmitten der Wüste. Dort hatte es das Märchen hinterlassen, damit es Fundevogel sei. Das Kind war klein, hatte Hunger, schrie, besaß keinen Namen, besaß keine Eltern und kein Haus.

Da viele im Krieg schreien und das Geschrei groß ist, das der Schuldigen, so wie der Unschuldigen, wurde das Kind lange nicht gehört. Aus ihm schrie der Hunger und die Einsamkeit. Es merkte gar nicht, dass es schrie. Es schrie, um nicht mehr hungrig und nicht mehr allein zu sein. Ein alter Mann, den der Krieg übriggelassen hatte, und der auch da war, damit wir im Märchen bleiben können, denn alte Männer werden im allgemeinen vom Krieg gefressen, der alte Mann – ob rot, ob gelb, ob weiß, ob schwarz – hörte das Kind, stieg mühsam auf den Baum und nahm es mit in sein kleines, vom Wind ausgepustetes Zimmer. Das bewohnte er mit seiner noch älteren Schwester und einem dürren, winzigen Mädchen, das er gefunden hatte wie den Buben, den er von nun an, damit wir im Märchen bleiben, Fundevogel rief.

Der Bub bekam Brei, bekam Wasser, verlor den Hunger und die Angst und mochte das Mädchen, das -wie er- nicht nur Hunger und Angst verloren hatte. Die Frau aber, verdrossen über die unnützen Mitesser, die spielenden, lustigen Fundevögel, hatte vor, sobald sich der Alte von der Wohnung entfernen würde, den Buben fortzujagen. Das sagte sie dem Mädchen. Da beide mit der Angst vertraut waren, fürchteten sie sich nicht, sondern nahmen sich vor, in der Nacht miteinander wegzugehen. Damit wir im Märchen bleiben, sagte sie den schönen Satz: „Verläßt du mich nicht, so verlasse ich dich auch nicht“, worauf der Fundevogel erwidern musste: „Nun und nimmermehr.“

Sie kannten das Land, das kein Land mehr war, das brachlag und auf Menschen wartete, gingen weg und ließen die alte Frau allein. Die entdeckte bald die Flucht und fragte sich, was sie dem Alten sagen sollte, würde er zurückkehren, Sie eilte aus dem Haus, hielt drei Soldaten an, denn immer sind Soldaten auf der Straße, in diesem Krieg, in diesem Land, und bat sie, nach den Kindern zu suchen, sie zurückzubringen. Von weitem sahen Fundevogel und Fundevögelchen die Soldaten. Sie sprangen über Stacheldraht und Gräben, riefen, fuchtelten mit Gewehren. Da sagte Fundevogel: „Wir werden wie der Baum.“, und sie wurden Bäume wie sie es bei den Soldaten gesehen hatten. Sie steckten Äste und Zweige in Kleider und Haar und sagten sich von neuem die schönen Sätze: „Verläßt du mich nicht, so verlasse ich dich auch nicht.“ – „Nun und nimmermehr.“

Die Soldaten irrten umher, stocherten mit den Gewehrläufen im Gebüsch und stellten fest, daß keine Kinder zu finden waren. Als sie dies der alten Frau sagten, zürnte sie ihnen sehr. Sie hätten die kleinen Bäumchen am Wegrand beachten, sie ausreißen und ihr für den Garten mitbringen sollen. Ein zweites Mal zogen die Soldaten los. Die Kinder sahen sie wieder kommen, und der Fundevogel sagte zum Fundevögelchen: „So werde ich ein Grab und du der Hügel darauf.“ Sie legten sich in ein flaches Erdloch, buddelten Erde über sich und waren in diesem Märchen, in dem es Tausende von Erdlöchern gibt und Tausende von flachen Erdhügeln, nicht mehr zu sehen.                                                          ‚

Die Soldaten fanden niemanden und kehrten murrend zur Alten zurück. Sie hätten nichts gesehen als einen frischen flachen Erdhügel, und deren gäbe es viele. Die alte Frau geriet in große Wut, schalt sie Dummköpfe und sagte, sie hätten den Hügel aufgraben und den Inhalt mitbringen sollen, und schickte sie abermals aus. Die Soldaten flehten um Schnaps, um ein Stück Brot dazu, doch die alte Frau war hart und trieb sie vor sich her, sie werde mitkommen und ebenfalls Ausschau halten.

Es war einmal ein Krieg, es war einmal ein Land, das seinen Namen vergessen hatte. In dem namenlosen Land gibt es, weil es das Märchen so will, Fundevogel und Fundevögelchen. Sie sehen die Soldaten und die alte Frau kommen, sie sehen, wie der Himmel hell wird von Feuer, sie hören, was sie immer gehört haben: Granaten krachen und Raketen heulen, und sie werfen sich, weil sie es gelernt haben, auf die Erde, Fundevogel und Fundevögelchen, in einem Krieg, der einmal war. Die alte Frau wurde von einer Kugel getroffen, kam um, die Soldaten liefen davon, und Fundevogel und Fundevögelchen sagten sich die schönen Sätze, die nur im Märchen am Ende wiederholt werden. Sie nahmen sich an der Hand, versprachen sich, beieinander zu bleiben und den alten Mann zu suchen, ihn zu pflegen und zu nähren, und beschlossen um dem Märchen zu entrinnen, Menschen zu werden.